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Jan erwachte. Seine Hand fuhr automatisch zu seinem roten Wecker und hämmerte auf selbigen ein. Endlich verklang das störende Piepen. Jan drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Er schlang die warme Decke enger um sich. Seine Augenlider wurden bereits schwerer, als ein greller Lichtstrahl direkt auf seine Stirn fiel. Er hörte Schritte, dann einen Schmerzensschrei und ein Klagen über das unaufgeräumte Zimmer. "Es reicht mir. Wenn Jan aus der Schule kommt, wird hier erstmal Großputz veranstaltet." Die Stimme seiner Mutter. Der Tag fing ja gut an! Aber auch ohne die Tatsache, dass ein Aufräumkommando nachmittags auf ihn warten würde, hatte Jan schlechte Laune. Heute war Montag. Wieder eine neue Woche und wieder ein neuer Ritt in die Hölle. "Aufstehen, Schatz, du musst in die Schule." Warum musste seine Mutter die Montage immer gleich mit dieser schlechten Nachricht beginnen? Jan raffte sich auf, kletterte schlaftrunken aus seinem total verdrehten Bettzeug, stolperte wie seine Mutter über den umgekippten Schreibtischstuhl - der am Samstag noch als Verteidigungslinie von Jans Plastiksoldaten gedient hatte - und verschwand mit seinen Anziehsachen unterm Arm im Badezimmer. Als Jan am Frühstückstisch saß, war es bereits halb acht. "Beeil dich, Liebling, Hendrik kann jeden Moment da sein", drängte Jans Mutter, während sie Butterbrote in der Schultasche verstaute. Hendrik Hasenbein, Jans Nachbar und bester Freund, holte Jan jeden Tag der Woche - außer an den Wochenenden versteht sich - von zu Hause ab, um mit ihm gemeinsam zur Schule zu gehen. Und eben in diesem Moment, als Jan an den dürren, rothaarigen Jungen mit der Brille dachte, klingelte es an der Tür. Jans Mutter öffnete. Hendrik sah sie aus verschlafener, nicht weniger schlecht gelaunter Miene als die von Jan an. "Morgen", murmelte er mürrisch, rieb sich ein Auge und lehnte sich gegen die Wand im Hausflur. "Schnell, Liebling, Hendrik wartet schon." "Ich komme ja", seufzte Jan mit geschulterter Tasche, während er verzweifelt versuchte, in seinen Anorak zu schlüpfen. "Passt auf euch auf, Jungs", verabschiedete die Mutter die beiden Jungen und schloss hinter ihnen die Tür. "Jetzt aber schnell", drängelte auch Hendrik, der es hasste, zu spät zur Schule zu kommen. Er mochte sie zwar genau so wenig wie Jan, hatte aber wesentlich mehr Angst vor dem Eintrag der Fehlzeit im Zeugnis - kein Wunder, Hendrik musste sich ziemlich anstrengen, dass er im Sommer in die siebte Klasse versetzt werden würde. Und da Jan nicht wollte, dass sein Freund wegen ihm zu spät in der Schule auftauchte, beschleunigte er seinen Schritt, als sie - immer gleich mehrere Stufen nehmend - vom vierten Stock hinabsausten. Als die beiden Jungen an der Haustür im dritten Stock vorbeipolterten, lugte Oma Drache durch einen Spalt und schimpfte über den schrecklichen Lärm zu so früher Stunde. Sie hieß nicht wirklich Oma Drache, sondern Frau Altmohn, aber die Kinder machten sich einen Spaß daraus, sie so zu nennen. Schließlich konnte die garstige, klapprige Frau selbst laut wie ein Drache werden, wenn sie wegen irgendeiner Kleinigkeit wieder einmal durch das ganze Treppenhaus schrie - und wehe dem, den sie erwischte, denn die Leute im Haus erzählten sich Geschichten, dass die Alte sogar Feuer speien konnte. Jan und Hendrik schafften es gerade rechtzeitig in ihre Klasse. Herr Unterland, ihr Lehrer für Deutsch und Biologie war recht langsam zu Fuß und so konnten die Jungen noch durch die Tür ihres Klassenzimmers schlüpfen, bevor Herr Unterland den oberen Treppenabsatz erreichte. Die Doppelstunde Biologie zog sich wie dickflüssiger Käse dahin. Herr Unterland erzählte irgendetwas über Bäume und wie man sie an den unterschiedlichen Formen ihrer Blätter erkennen konnte. Jan und Hendrik langweilten sich wie jeden Montag fast zu Tode, wünschten sich aber weitere Anekdoten aus dem Leben ihrer Umwelt, als die Zeiger der Uhr über der Tafel langsam die neunte Stunde und damit die erste große Pause einleiteten. Pause war etwas Erlösendes - zumindest für die meisten. Für Hendrik und Jan bedeutete es zwanzig Minuten voller Angst und dem dringenden Wunsch, sich in einem Mauseloch zu verstecken. Grund dafür war... "Sascha?! Suchst uns aber früh auf." "Pünktlich wie immer, kleiner Jammer-Jan. Na, Hasenbein, heute schon in die Windeln gemacht?" Sascha Recklinger, ein kräftiger Junge aus der achten Klasse, ließ sich lässig neben Jan und Hendrik - seine beiden Lieblingsopfer - auf die Bank fallen. Er war der Grund für die tägliche Pausenangst, er war der Albtraum, der die Jungen sogar noch am Freitagabend im Schlaf einholte. Sascha war nur ein Schüler - leider aber sehr viel größer, stärker und gefürchteter als die beiden Sechstklässler. "Okay, ihr Babys! Wo ist meine morgendliche Ration Pausenbrote?" Sascha war so schon dick genug, fand Jan, er musste ihnen nicht regelmäßig das Frühstück wegnehmen und es zusätzlich zu seinen drei Tonnen Schokoriegel verschlingen, die er sowieso alle fünf Minuten in sich reinzustopfen schien. "Oh nein!" wimmerte Hendrik, als er wie ein Verrückter in seiner Schultasche zu wühlen begann. "I-I-Ich g-g-glaube, ich h-habe meine Brote daheim v-v-ver-g-gessen." Sascha Recklinger drehte sein fettes Gesicht zu den Tischtennisplatten um, wo seine Bande nur darauf lauerte, dass eines seiner Opfer sein "Schutzgeld" nicht bezahlen konnte. Sogleich kamen drei weitere schrankgroße Jungen auf Jan und seinen Freund zu und stellten sich im Kreis um die beiden auf. Hendrik war den Tränen nahe. Sascha schielte kurz über die Schulter. Die Pausenaufsicht verschwand hinter der Sporthalle. Dann packte er Hendrik am Kragen, zog ihn ganz nah an sein rotes Gesicht heran und fauchte in sein Ohr: "Wenn du morgen nicht die doppelte Portion mitbringst, werde ich dir die Toilettenschüsseln von innen zeigen, Hasenbein!" Er ließ Hendrik zurück auf die Bank fallen, grapschte nach Jans Pausenbrot und stolzierte zusammen mit seinen Schlägerfreunden davon. Jan klopfte seinem Freund tröstend auf die Schulter. Hendrik nahm seine Brille ab und wischte sich über die Augen. "Vie-vielleicht sollten w-wir es doch einem der Lehrer erzählen", schluchzte er. "Auf keinen Fall", warf Jan schnell ein, "wenn Sascha oder einer seiner Kumpels rausfindet, dass wir sie verpfiffen haben, werden wir unsere Köpfe nie wieder aus den Toiletten herausbekommen." Es läutete wieder zum Unterricht. Jan und Hendrik trotteten mit ratlosen und verzweifelten Mienen zurück ins Schulgebäude. Als die Kinder am frühen Nachmittag endlich an Hendriks Haus ankamen, fehlte ihnen nicht nur die gute Laune, sondern auch noch der Mut. Sie fürchteten, dass Sascha Recklinger wohl ihr ganzes Leben hinter ihnen her sein und sie nach seiner täglichen Ration fordern würde. Hendrik lief jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an die Schultoiletten denken musste - er hatte Dank Saschas "großzügiger" Hilfe bereits Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Der Junge zitterte wie Espenlaub. "Jan, wir müssen etwas unternehmen. Meine Mum macht mir für morgen bestimmt nicht doppelt so viele Brote, wenn ich sie darum bitte. Ich glaube, ich schwänze morgen die Schule." "Das kannst du nicht machen", erwiderte Jan energisch, "nicht wegen diesem Müllschlucker Sascha. Denk an deine Schulnoten! Willst du wegen ein paar Butterbroten sitzen bleiben?" Jan schüttelte den Kopf. "Das ist keine Lösung. Wenn du die sechste Klasse wiederholen musst, hat Sascha noch mehr Spaß daran uns zu quälen, weil wir dann getrennt wären." Jan klopfte seinem Freund erneut kameradschaftlich auf die Schulter und wollte dann auf die andere Straßenseite wechseln, um nach Hause zu gehen. Hendrik folgte ihm. "Darf ich mit zu dir kommen? Meine Mum ist noch nicht daheim und meinen Schlüssel hab ich auch vergessen." "Klar", antwortete Jan Schulter zuckend. Die beiden betraten den Hausflur und stiegen die Treppe hinauf. Jan ließ die Schultern hängen. Wie nur konnte er seinen Freund vor der Toilettenschüssel und sie beide vor Sascha bewahren? Sein Kopf schmerzte bereits vor Anspannung und er meinte, die inneren Zahnräder knirschen zu hören. Sie klangen seltsam blechern und im nächsten Augenblick schien er kalte Füße zu bekommen. "Jan!" Hendrik riss den Jungen aus seinen Gedanken. Jan starrte auf seine Füße, über die sich ein See aus Putzwasser ergossen hatte. "Warum hast du Oma Drachens Wassereimer umgeworfen? Gleich wird sie kommen und uns -" Hendrik konnte seinen Satz nicht beenden. Die Haustür im dritten Stock schwang auf. Oma Drache, dürr und klapprig, die knochigen Finger um die Klinke geschlungen, stand im Türrahmen. In ihren Augen loderte ein gewaltiges Feuer. Würde sie es gleich auf die beiden Freunde speien? Ihr riesiger Mund öffnete sich und zeigte das alte Gebiss mit den gelblichen Drachenzähnen. "Ihr Kinder habt wohl keine Augen im Kopf? Was fällt euch ein, meinen Putzeimer umzustoßen?! Glaubt ja nicht, dass ihr damit davonkommen werdet. Ich kenne euch und eure Eltern. Du bist die Brut von den Hasenbeins aus'm Nachbarhaus und du, Kleiner, wohnst im vierten Stock! Machst immer einen Höllenlärm in deinem Zimmer. Ihr werdet die Verantwortung für eure Tat tragen, ist das klar?!" Jan und Hendrik, beide bisher viel zu erschrocken, um auch nur einen Finger zu rühren, erwachten jetzt aus ihrer Starre und rannten, so schnell sie konnten, in den vierten Stock hinauf. Hinter ihnen warf Oma Drache eine Verwünschung nach der anderen die Treppe rauf. "Das wird ein Nachspiel haben! So leicht kommt ihr mir nicht davon!" Die Jungen erreichten Jans Haustür. Jan schloss schnell auf und die beiden verschwanden im Kinderzimmer. Hendrik ließ seinen Ranzen auf das Bett fallen. "Das war knapp. Glaubst du, sie wird unseren Eltern davon erzählen?" "Bestimmt", schnaufte Jan. Er richtete seinen umgekippten Schreibtischstuhl auf und setzte sich. "Sie hat noch nie locker gelassen. Jedem, den sie erwischt, steht eine qualvolle Strafe bevor." Hendrik versuchte, seinen Kopf zwischen den Schultern zu verstecken. "Glaubst du, sie steckt unsere Köpfe auch in die Kloschüssel?" Der Tag neigte sich dem Ende zu und Hendrik wandte sich zum Gehen, als Jans Mutter den Kopf durch die Tür steckte. "Was ist los?" fragte Jan. "Frau Altmohn hat gerade vorbeigeschaut. Sie sagte, ihr beiden hättet ihren Putzeimer absichtlich umgestoßen." "Es war ein Versehen, Mum." "Wie auch immer. Sie möchte, dass ihr morgen nach der Schule in ihre Wohnung kommt und euch entschuldigt. Vielleicht werdet ihr der alten Dame auch ein wenig zur Hand gehen müssen. Das ist das Mindeste, was ihr tun solltet." "Mum, ich sagte doch schon -" "Keine Widerrede", ermahnte Jans Mutter die Jungen. "Hendrik, auch deine Mutter ist mit dieser Art von Entschuldigung einverstanden. Sie möchte übrigens, dass du heim zum Essen kommst." Hendrik verabschiedete sich mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, der verriet, dass er morgen schwänzen würde und verschwand aus Jans Zimmer. Tatsächlich ließ sich Hendrik am Dienstag nicht in der Schule blicken. Seine Mutter war am frühen Morgen bei Jan vorbeigekommen und hatte ihm zwei Zettel in die Hand gedrückt - eine Entschuldigung von ihr an Hendriks Lehrer und einen Brief von Hendrik an Jan. Letzteren las Jan, als er allein auf dem Weg zur Schule war: Lieber Jan, tut mir leid, dass ich dich heute im Stich lassen muss, aber meine Mum hat sich geweigert, mir für heute überhaupt Butterbrote zu machen. Grund dafür ist die Sache mit Oma Drachens Putzeimer von gestern. Jedenfalls habe ich heute Morgen Magenschmerzen vorgetäuscht, in der Hoffnung, Sascha Recklinger somit aus dem Weg zu gehen. Ich hätte einen Vorschlag für dich, wie auch du dies bewerkstelligen könntest: Melde dich zu Beginn der Pause bei Herrn Unterland und sage ihm, dass du auch Magenschmerzen hast. Dann komm zu mir nach Hause. Meine Mum ist nicht da, sie wird nichts bemerken. Wir könnten zu Oma Drache gehen und uns entschuldigen. So hätten wir nur eine Toilettenschüssel für heute zu ertragen. Hendrik Jan gefiel Hendriks Vorschlag, zu schwänzen, nicht besonders. Er beschloss, das Spiel nicht mitzumachen. Jan war enttäuscht von Hendrik, weil er ihn einfach allein in die Höhle des Löwen schickte. Andererseits konnte er seinen Freund aber auch verstehen. Sascha Recklinger hatte ihn als sein absolutes Opfer auserwählt und liebte es, ihm Tag für Tag über den Weg zu laufen und ihn zum Weinen zu bringen. Als die zum Stinken langweilige Deutschstunde sich dem Ende neigte, hatte Jan einen neuen Entschluss gefasst. Er würde es tun, er würde ebenfalls Magenschmerzen bekommen. Also meldete Jan sich zu Beginn der Pause bei Herrn Unterland, der ihn mit einem aufmunternden Lächeln aufforderte, zum Arzt und dann nach Hause zu gehen. Jan gab ein wehklagendes Stöhnen von sich, packte seine Tasche und verließ das Schulgelände. Zwanzig Minuten später klopfte er an der hinteren Terrassentür vom Haus der Hasenbeins. Er musste mehrmals klopfen, bis Hendrik ihm endlich öffnete. "Warum kommst du hinten herum?" fragte er, ohne zu begreifen. "Denk an meine Mum. Die ist Hausfrau. Wenn sie mich während der Schulzeit an eurer Tür stehen sieht, krieg ich noch mehr Ärger als ich bereits am Stecken habe." Hendrik schwieg. Er lächelte seinen Freund nur aus glitzernden Augen an. Er war überglücklich, dass Jan gekommen war. "Was machen wir jetzt?" fragte Hendrik motiviert. "Na was schon? Wir gehen zu Oma Drache und entschuldigen uns für gestern, wie du es vorgeschlagen hast." "Ach ja", seufzte Hendrik, der wohl nicht mehr so viel von seinem Einfall hielt und den freien Tag lieber sinnvoller genutzt hätte. Dennoch blieb es dabei. Die Jungen mussten es ohnehin irgendwann tun, sonst würde sich die alte Drachenhaut wieder regen und die Eltern der Kinder alarmieren. Vorsichtig huschten Jan und Hendrik über die Straße und in Jans Hof. Seine Mutter könnte zu Hause sein, sie durften also kein Aufsehen erregen. Schlimmer wäre jetzt allerdings, seine Mum käme vom Einkaufen zurück. Dann säßen sie in der Falle. Rasch schloss Jan die Haustür auf und er und Hendrik rannten hinauf in den dritten Stock. Dort läuteten sie an der Klingel, auf der A. Altmohn stand. Oma Drache öffnete. Ihre Stirn legte sich überrascht in Falten und ihr ohnehin schon schmaler Mund verzog sich zu einem Strich. "Guten Morgen, Oma Dra ... äh, Frau Altmohn", grüßten die Jungen. "Morgen", murmelte die Alte ein wenig verwirrt zurück. "Was wollt ihr hier?" "Uns entschuldigen", brachte Hendrik hervor, "wegen gestern." "Die Sache mit dem Putzeimer", entgegnete Jan. Frau Altmohn starrte die Jungen eine Weile völlig reglos an. Eine peinliche Stille begann sich im Treppenhaus auszubreiten und sie gehörte deshalb zu den erwähnenswerten peinlichen Stillen, da Oma Drache - der Schreihals in Person - anwesend war. Endlich öffnete sie ihren strichartigen Mund. "Ihr wisst, dass eine Entschuldigung allein nicht reichen wird. Ich habe ganze zwei Stunden damit verbracht, die Lache im Treppenhaus wieder aufzuwischen." Sie übertrieb wie immer. "Deshalb sind wir hier", meinte Jan, "wir wollen unsere Schuld begleichen." "Soso", knurrte Oma Drache. Das Feuer in ihren Lungen schien am Vormittag noch nicht heiß genug für einen feurigen Ausbruch. Sie trat beiseite und forderte die Jungen mit einer stummen Geste in ihre Wohnung. Hendrik schluckte hörbar hinter Jan und klammerte sich an seinem Arm fest. Da keiner der beiden Anstalten machte, einzutreten, verschwand Oma Drache als erste durch die Tür, ließ diese jedoch offen. "Ich habe gehört, dass sie von Nathalie aus dem zweiten Stock im Nachbarhaus besucht worden ist. Das Mädchen hat man bis heute nicht mehr in der Stadt gesehen", flüsterte Hendrik mit so ernster Stimme, dass es beinahe nach der Wahrheit klang. "Nathalie ist deshalb nicht mehr aufgetaucht, weil ihre Familie ins Ausland gezogen ist", antwortete Jan und setzte einen Fuß über die Schwelle. Hendrik folgte ihm mit größtem Unbehagen. Er stieß hörbar die Luft aus, als sein Blick auf die Zimmer hinter der Drachentür fiel. Vielleicht hatte er eine Art Höhle erwartet mit Stalaktiten und viel mehr Felsen. Oma Drachens Wohnung entsprach jedoch keineswegs Hendriks Vorstellungen. Die Wände besaßen pastellfarbene Anstriche und waren, ebenso wie Teppiche und Möbel, schlicht gehalten. Gleich neben der Tür stand eine rustikale Kommode, auf der Oma Drachens Telefon, sowie dunkle Handschuhe und ein kleines Kästchen standen. "Macht die Tür zu, es zieht!" grollte ihre alte, kratzige Stimme plötzlich aus dem rechten Zimmer. Bevor Hendrik auch nur ängstlich zusammenzucken konnte, hatte Jan bereits die Tür geschlossen. Jetzt sitzen wir in der Falle, dachte er. Jan gab seinem Freund einen leichten Rippenstoß und die beiden schlenderten zaghaft in den Raum, aus dem der Drache gerufen hatte. Die Jungen betraten das Wohnzimmer - und ein überraschter Ausdruck huschte über ihre Gesichter. Das Wohnzimmer sah einfach verboten unordentlich aus. In den Regalen an den Wänden türmten sich gigantische Bücherstapel, die Schränke waren mit allerlei Krimskrams vollgestopft, auf kleinen Ablagen und Tischchen waren ganze Altare mit Familienfotos aufgebaut und neben dem winzigen Fernsehgerät schlief eine graue Katze in einem Korb alter Klamotten. Auf dem Sofa, inmitten dieses Tohuwabohus hockte die Drachendame, gerade und steif. "Setzt euch", befahl sie mit ihrer kehligen Stimme. Die Jungen wechselten einen Blick. Wohin sollten sie sich denn setzen? Auf den Sesseln lagen Berge von Zeitschriften und Büchern. Jan trat todesmutig nach vorne, nahm einen Korb mit Wolle und Strickzeug von einem Stuhl und setzte sich. Hendriks Mund verzerrte sich zu einem grotesken Lächeln, dann schob er die Zeitschriften beiseite und ließ sich auf dem großen Ohrensessel nieder. "Nun?" fragte Oma Drache. Sie griff schweigend zu einem Tablett, stellte drei Porzellantassen auf das einzige freie Plätzchen auf dem sonst so überfüllten Tisch und schenkte eine braune, dampfende Flüssigkeit aus einer bauchigen Porzellankanne ein. "Warum seid ihr hier?" Sie reichte jedem der Jungen eine Tasse. Hendrik nahm sogleich einen kräftigen Schluck. Er hatte Angst, was mit ihm passieren würde, nahm er Oma Drachens Angebot nicht gleich wahr. Jan schaute sich die Flüssigkeit in der Tasse erst einmal an. "Grüner Tee", antwortete Oma Drache, der Jans skeptischer Blick sofort aufgefallen war. Jan nahm einen kleinen Schluck. Dann fiel ihm ein, dass weder er noch Hendrik bisher auf Oma Drachens Frage reagiert hatten. Verlegen murmelte er: "Wir sagten doch, wir wollen unsere Schuld begleichen." "Das weiß ich bereits", meinte Oma Drache resigniert. "Ich will wissen, warum ihr hier seid - so früh am Morgen? Habt ihr keinen Unterricht?" Wieder wechselten Jan und Hendrik ängstliche Blicke. Oma Drache war nicht so dumm, wie Sascha Recklinger aussah. Sie wusste, dass die Jungen eigentlich in der Schule sein sollten. Würde sie Jan und Hendrik später an ihre Mütter verpetzen? Was sollten sie jetzt tun, was sollten sie sagen, dachte Jan ratlos. "Es ist meine Schuld", sagte Hendrik. "Es war meine Idee, die Schule zu schwänzen." Oma Drache hob eine Augenbraue. Ihr Mund verzog sich zu einem triumphalen Lächeln. Sie hatte es schon vorher gewusst, bemerkte Jan. Schon seit sie die Haustür geöffnet hatte. Jan stellte sich bereits vor, wie Oma Drache mit glitzernden Augen und vor Aufregung wild pochendem Herzen - falls sie überhaupt eines besaß - zu seiner Mutter gehen und ihn verpfeifen würde. Wäre er doch lieber in der Schule geblieben. Dort hätte er es nur mit Sascha zu tun bekommen. Eine merkwürdige Stille riss Jan aus seinen Gedanken. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Verlegen biss sich der Junge auf die Unterlippe. Hendrik half ihm aus der peinlichen Lage. "Soll ich erzählen, warum wir nicht in der Schule sind?" fragte er. Jan nickte, ohne die Frage wirklich verstanden zu haben. Er konnte nur in die eisig kalten Augen von Oma Drache blinzeln. "Wir hatten Angst", begann Hendrik, "in der Schule gibt es so einen Kerl aus der achten Klasse." Oma Drache rührte gänzlich uninteressiert in ihrer Teetasse. Hendrik merkte es nicht und sprach mit leicht zitternder Stimme weiter: "Naja, dieser Kerl ist ziemlich stark und er hat eine ganze Bande um sich geschart, die ihn vergöttert. Sie wollen immer unser Pausenbrot. Schutzgeld nennen sie es. Wenn wir es ihnen geben, verprügeln sie uns nicht. Jan und ich sind die Hauptopfer. Zu wehren trauen wir uns nicht und die Lehrer tun so, als wären sie blind, wenn dieser Achtklässler uns wieder einmal in die Toiletten schleift." "Sascha Recklinger", kam es Jan über die Lippen, "Sascha Recklinger heißt er." Die beiden Jungen saßen nun ein wenig geknickt zwischen all den Büchern, Magazinen und Stricksachen. Sicher würde Oma Drache sie gleich auslachen, weil sie zu zweit nichts gegen einen unterbelichteten Jungen aus der achten unternehmen konnten. Aber sie kannte Sascha ja nicht! Den großen, den starken Sascha. Jan hob den Kopf ein Stück. Aus den Augenwinkeln spähte er zu Oma Drache hinüber - und runzelte die Stirn. Nichts. Kein Grinsen verzog die Mundwinkel, kein gehässiges Lachen kroch aus ihrer kratzigen Kehle. Irgendwie kam es Jan sogar so vor, als schaue Oma Drache zum ersten Mal nicht böse und gemein drein. Schimmerte da nicht sogar etwas in ihren Augen. Eine Träne?! Aber Drachen weinten nicht! Jan schaute zu Hendrik hinüber. Sein bester Freund hatte es auch bemerkt. Er hockte in dem riesigen Ohrensessel und wirkte sprachlos. Den Mund weit geöffnet und die Augen ungläubig auf die alte Frau ihm gegenüber gerichtet saß er da. Plötzlich stellte Oma Drache ihre Tasse auf einem freien Fleck auf dem Tisch ab und sprang auf. Sie trampelte aus dem Wohnzimmer, verschwand in einem anderen und knallte die Tür hinter sich zu. Jan und Hendrik starrten ihr verwirrt nach. "Vielleicht sollten wir wieder gehen", murmelte Hendrik mit hoffnungsvoller und schon fast flehender Stimme zu Jan. Nervös rührte er jetzt in seiner Teetasse. Da öffnete die Tür sich jedoch wieder ruckartig und Oma Drache kehrte zurück. Mit ihren knochigen Griffeln umklammerte sie ein kleines, schwarzes Buch. "Recklinger heißt der Junge? Und er schüchtert euch beide ein? Nun, dem werden wir es zeigen!" Sie setzte sich zurück auf ihr Sofa, schlug die von Krampfadern durchzogenen Beine übereinander und begann, in dem kleinen Büchlein zu schmökern. Jan und Hendrik wechselten verwirrte Blicke. Dann ließ Oma Drache ein fröhliches "Haha!" erklingen und grinste die Jungen mit so hell funkelnden Augen an, dass sie es jetzt endgültig mit der Angst zu tun bekamen. Mit einem ihrer langen, dürren Finger lockte sie die Kinder zu sich heran. Dann schüttelte sie jedem von ihnen die Hand. "Ich weiß, ihr nennt mich immer Oma Drache, aber selbst ich habe einen Namen. Ich heiße Agnes Altmohn." "Glaubst du, es funktioniert?" fragte Hendrik mit zittriger Stimme. Er schwitzte und putzte schon seit fünf Minuten nervös seine Brillengläser. "Hey", versuchte Jan ihn aufzumuntern, "der Plan ist von Oma Drache ... äh, von Agnes! Der kann gar nicht schief gehen." Die Jungen sahen sich verstohlen um. Jan lächelte. "Und ich habe immer gedacht, Schule sei während des Unterrichts unheimlich." Es war noch stockdunkel. Nur wenige Lampen brannten auf dem noch verlassenen Schulgelände. Hendrik warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war erst fünf Uhr siebenunddreißig. Normalerweise tauchten die ersten Schüler und Lehrer gegen sieben Uhr auf. Sie hatten also noch Zeit. Jan nickte Hendrik entschlossen zu. Hendrik verstand. Er machte sich mit schnellen Schritten davon. Jan verschwand stattdessen hinter dem Schulgebäude. Dort begann er hastig mit seiner Arbeit. Immer wieder holte er seine Taschenlampe hervor und warf einen Blick auf die vielen Notizzettel, die er und Hendrik von Oma Drache bekommen hatten. Jan runzelte die Stirn. Oma Drache war gar nicht so böse und sie fraß auch keine Kinder, wie manche Klassenkameraden gern erzählten. Sie war einfach nur alt. Alt, aber ganz schön hinterlistig. Erneut starrte Jan auf seine Notizen. Alles war bis ins kleinste geplant. Jedes Detail war vermerkt. Oma Drache konnte sich unmöglich den Plan spontan zusammengereimt haben. Jan erinnerte sich, dass sie mit einem kleinen schwarzen Buch zurück ins Wohnzimmer gekommen war. Ständig hatte sie darin herumgeschmökert, dann krächzend gekichert und wie ein listiger Geschäftsmann die Hände gerieben. Leider hatten weder Jan noch Hendrik ein Blick in das Büchlein werfen können. Ob es gemeine Tricks und Pläne enthielt, mit denen man sich seiner Feinde entledigen konnte? Jedenfalls hatte Oma Drache furchtbar gelacht, als sie den Jungen ihren Plan eröffnet hatte. Jan schmunzelte. Nie zuvor hatte er einen Drachen so erregt lachen gesehen. Plötzlich merkte der Junge, dass er sich beeilen musste, wenn er noch rechtzeitig fertig werden wollte. Oma Drachens Plan durfte nicht scheitern, nur weil er vor sich hinträumte. Hendrik spähte zur Uhr über der Tafel. Noch zehn Minuten, dann war große Pause. Jan nickte ihm entschlossen zu. Er legte die Hand auf seinen Ranzen, dort, wo die Brotbüchse verstaut war. Hendrik putzte seinerseits seine Brille. Er war furchtbar nervös. Frau Eckes, eine der nettesten Englischlehrerinnen der ganzen Schule, schrieb die Hausaufgaben an die Tafel. Anschließend klappte sie das Klassenbuch zu und sagte: "Das war's. Wir sehen uns morgen Mittag wieder. Nicole, machst du bitte alle Fenster zu?" Die Schüler erhoben sich von ihren Plätzen. Es hatte noch nicht zur Pause geklingelt, aber Frau Eckes entließ die Klasse schon in den Schulhof. Sie hatte jetzt gleich Pausenaufsicht und musste das Klassenbuch noch im Lehrerzimmer abgeben. Jan und Hendrik verließen das Gebäude und traten in den sonnigen Hof. Verstohlen sahen sie sich um. "Mist", knurrte Hendrik, "wenn man diesen fetten Sack von Sascha mal braucht, ist er nicht aufzutreiben." "Und wofür beansprucht ihr meine Dienste?" Ein breiter Schatten fiel auf die beiden Jungen. Sie drehten sich um. Vor ihnen stand, groß wie ein Schrank, Sascha Recklinger, die Arme vor der Brust verschränkt. Er packte Hendrik am Kragen. "Wo warst du gestern, Hasenbein? Hast dich hinter Mamas dickem Hintern versteckt und in die Windeln gemacht?" Hendrik wimmerte. "Dich habe ich auch vermisst, Jammer-Jan! Hast deinem Freund Gesellschaft geleistet und ihm den Arsch abgewischt?" Sascha lachte lauthals. Dann ließ er Hendrik grob zu Boden fallen. "Also her mit euren Pausenbroten oder ich stopf eure hirnlosen Birnen in die Kloschüsseln der Mädchentoilette!" Das war das Stichwort. Hendrik und Jan kramten in ihren Schultaschen, bis beide jeweils eine Brotbüchse herausförderten. Sascha griff nach Hendriks roter Brotdose und öffnete sie. Er starrte missmutig auf das leicht zerknautschte Brot, das ihn anstrahlte. "Hey, Hasenbein, sag deiner faulen Mutter, sie soll sich das nächste Mal etwas mehr Mühe geben!" "Wenn du es nicht willst." Hendrik atmete hörbar tief ein, streckte dann die Hand aus und packte das matschige Brot. Er klappte die beiden Hälften auseinander. "Sieht schon ... et-etwas trrrocken aus", stotterte er und warf einen kurzen Blick zu Jan. Sein Freund nickte aufmunternd. Hendrik fasste neuen Mut. Ein Ekel erregendes Geräusch drang tief aus seinem Inneren und bevor Sascha Recklinger es richtig wahrnahm, spuckte Hendrik Hasenbein mitten auf sein wabbeliges Brot, schloss die beiden Hälften, wobei er sie fest aneinander presste und hielt sein Werk dem dicken Sascha entgegen. Dieser schaute aus verdutzten Schweinsäuglein auf den zitternden Jungen herab. "Was soll das, Hasenbein?! Glaubst du, dass du so dein Frühstück vor mir retten kannst? Ha!" Saschas Pranken umfassten das Brot und führten es zu seinem breiten Mund. Mit raubkatzenähnlichen Bissen verschlang Sascha Recklinger die kleine, vor Speichel triefende Mahlzeit. Er lachte triumphierend, bevor er sich Jan und seiner Brotbüchse zuwandte. "Und jetzt zu dir, Winzling. Rückst du gleich mit deinem Pausenbrot raus oder willst du auch erst den Versuch wagen, hineinzuspucken? Haha!" Jan schüttelte den Kopf, kniete sich aber zu seiner Schultasche hinunter. "Meine Mutter hat mir etwas mitgegeben, das ich auf mein Brot machen soll. Es ist ein Experiment." "Nur zu, Jammer-Jan", grunzte Sascha hungrig. "Klatsch nur so viel auf meine Mahlzeit wie möglich." Jan gehorchte. Behutsam holte er eine knallrote Flasche aus seinem Rucksack. Ein kurzes Schmunzeln umspielte seine Lippen, während er sein Brot auspackte und die Scheiben auseinander klappte. Er bedeckte die Oberflächen der Brotscheiben großzügig mit der rötlichbraunen Paste aus der Flasche, klappte sie zusammen und reichte sie Sascha. Ohne zu zögern biss der dicke Achtklässler hinein. Jan und Hendrik wechselten Blicke. Rasch wurde die Flasche mit der Tabasco-Soße wieder im Schulranzen verstaut. Sascha verputzte inzwischen das letzte Stück von Jans Pausenbrot. Einen Moment lang grinste er noch. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einer grotesken Grimasse. Saschas Mund öffnete und schloss sich wie bei einem gefangenen Karpfen, der verzweifelt nach Luft schnappte. Hendrik erwartete schon, dass jeden Augenblick eine gewaltige Rauchwolke aus Saschas Mund qualmen würde, doch dieser Spaß blieb aus. Der dicke Junge keuchte und schnaufte, griff sich an den Millimeter Hals zwischen Kopf und Schultern und röchelte, als würde er erdrosselt. "Das brennt", japste Sascha, "wie Feuer! Wasser, ich brauche Wasser. Schnell!" Hendrik sah zu Jan. Dieser zwinkerte ihm zu, griff erneut in seine Schultasche und reichte Sascha Recklinger seine Trinkflasche. Der japsende Achtklässler leerte sie in wenigen Zügen, aber es half nichts. Sein Mund schien immer noch förmlich zu glühen. Da läutete es zur nächsten Stunde. Jan und Hendrik rannten schnell zum Schulgebäude. "Ich hoffe, dir haben unsere Brote geschmeckt!" rief Hendrik dem keuchenden Sascha noch zu. "Oh, Hasenbein, wart's nur ab. In der nächsten Pause wirst du dafür bezahlen! Du und dein dämlicher Bastard von einem Freund!" Die Jungen hörten nicht mehr hin. Sie betraten das Schulgebäude und machten sich auf den Weg in den Kunstsaal. Sie waren heute sogar die ersten. Der Saal war bereits aufgeschlossen und die Aktentasche ihres Lehrers, Herrn Quint, stand schon auf dem Pult. Nur Herr Quint selbst war noch nicht anwesend. "Lass uns einen Platz am Fenster nehmen", schlug Jan vor. "Dann können wir beobachten, wie Sascha zu den Toiletten rennt." Hendrik kicherte. "Eine geniale Idee von Oma Drache war das, Abführmittel in deine Flasche zu füllen. Schon bald wird ihn quälender Durchfall plagen." Auch Jan begann zu kichern. Ja, es war ein genialer Plan und wenn alles so verlaufen würde, wie es in Oma Drachens Aufzeichnungen stand, dann würden sie Sascha nicht nur einmal Richtung Toiletten sprinten sehen. Herr Quint betrat den Saal und der Unterricht begann. Kunst war ein einfaches Fach, sogar Hendrik war darin gut. Der Trick, um an gute Noten heranzukommen, bestand nur darin, die Bilder rechtzeitig abzuliefern. Und so ließen sich Jan und Hendrik dieses Mal etwas mehr Zeit als sonst, verbrachten sie einen Großteil der ersten halben Stunde doch damit, in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster zu starren. Sascha Recklingers Unterricht verlief nicht so gemütlich wie der der Sechstklässler. Er hatte Mathematik. Er hasste Mathe, aber jeder konnte es ihm nachempfinden. Es musste wirklich schwer sein, Algebra und Geometrie zu verstehen, wenn man nur bis drei zählen konnte. Doch derzeit hatte Sascha andere Probleme. Auch seinem Tischnachbarn und Gefolgsmann, David Schuster, fiel es auf. "Hey, Saschko, was'n los? Warum rutschst du denn ständig auf deinem Stuhl hin und her?" "Hmm, ich hab so ein flaues Gefühl im Bauch. Wahrscheinlich liegt es an dem feurigen Pausenbrot vom jämmerlichen Jan. Ohhh!" Saschas Kehle entrang sich ein klägliches Wimmern. Der Mathematiklehrer sah mit grimmigem Gesichtsausdruck zu Sascha hinüber. "Herr Recklinger, was stört Sie so daran, dass ich versuche, Ihnen und dem Rest der Klasse etwas beizubringen? Wenn Sie kein Interesse an meinem Unterricht haben, dann -" "Es ist mein Magen, Herr Kronberg. Mir ist auf einmal so schrecklich übel." Sascha schlug die Hand vor den Mund. Seine Backen blähten sich auf wie bei einer dicken Kröte. Er nahm auch ganz langsam deren Gesichtsfarbe an. Seine winzigen Schweinsäuglein traten imposant aus den kleinen Augenhöhlen hervor. Herr Kronberg kannte sich zwar mit höherer Mathematik und deren Anwendung aus, aber von kranken Schülern hatte er bei weitem keine Ahnung. "Herr Recklinger, was fehlt Ihnen? Wollen Sie einen Arzt konsultieren? Herr Recklinger!" Die letzten Worte schrie der Lehrer in überraschter Ratlosigkeit, als Saschas schwammiger Körper sich von seinem Stuhl erhob und Richtung Tür sprintete. Mit einem lauten Knall war er aus dem Klassensaal verschwunden. Sämtliche Schüler und auch Herr Kronberg hielten mehrere verblüffte Schweigeminuten, ehe sie den Unterricht wieder fortsetzten. Unterdessen rannte Sascha die Treppe runter. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, wurde jedoch schlagartig langsamer, als ein bedrohliches Gurgeln aus seinem Bauch ertönte. Im nächsten Moment riss Sascha vor Schreck die Augen auf. Am Ende seines Körpers sammelte sich etwas Unangenehmes an. Es brodelte und drohte zu explodieren. Sascha hechtete die letzten Stufen hinunter, so schnell es ihm möglich war und als er endlich das Erdgeschoss erreichte, entfleuchte ihm ein peinliches Lüftchen. Nur schnell zum Klo, dachte er in aufkommender Panik. Zur gleichen Zeit wagte Jan erneut einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Herr Quint hatte ihn bereits zweimal ermahnt, sich auf sein Bild zu konzentrieren und nicht nach draußen zu starren. Außerhalb des Kunstsaals gäbe es nichts, was seiner Kreativität auf die Sprünge helfen könnte. Vielleicht hatte Herr Quint sogar damit Recht, aber dort unten auf dem Schulhof existierte etwas wesentlich Interessanteres als Jans langweiliges Gemälde. Denn dort unten, quer über den Schulhof und beide Hände auf den Hintern gepresst, rannte der dicke Sascha Recklinger. Jan piekte Hendrik unauffällig mit dem Pinsel und dann warfen beide wieder einen Blick nach draußen. Hendrik kicherte. Sie wussten bereits, welche Richtung Sascha einschlagen würde. Und was ihn in den Toiletten der Jungen erwartete, entlockte Jan und Hendrik ein gehässiges Lächeln. Inzwischen erreichte Sascha das kleine graue Gebäude mit den beiden eindeutig gekennzeichneten Türen: die Schultoiletten. Linke Tür für die Mädchen, die rechte für die Jungen. Sascha rüttelte an der Klinke. Er befürchtete bereits, dass das Klo während der Unterrichtszeit abgeschlossen war, als er endlich die Tür aufbekam. Hastig lief er zur nächsten Kloschüssel. Er wollte schon die Hose runterlassen und sich setzen als... "Was ist denn das?!" Die ganze Schüssel war randvoll mit feuchtem Klopapier verstopft und die Brille war mit einer knallroten Paste bestrichen. Sascha tunkte den Finger hinein und roch daran. Es war Farbe und sie war noch sehr frisch. Der dicke Recklinger konnte es nicht glauben. Er verließ die erste Toilettenkabine und betrat die zweite. Unglücklicherweise hatte auch hier der seltsame Fremde zugeschlagen - nur dieses Mal war die Klobrille mit grüner Farbe bestrichen. In Sascha breitete sich eine beängstigende Panik aus, die dann aber von purer Verzweiflung abgelöst wurde, nachdem sich der Junge davon überzeugt hatte, dass keine der Toiletten von Klopapier und Farbe verschont geblieben war. Ein wiederholter, unangenehm duftender Wind befreite sich aus Saschas Darm. Was sollte er jetzt tun? Lange würde er es nicht mehr aufhalten können. Ob der Fremde wohl auch im Mädchenklo zugeschlagen hatte? Aber er konnte da doch nicht reingehen. Wenn ihn einer seiner Kumpels sehen würde?! Oder noch schlimmer: ein Lehrer! Saschas Magen und - noch heftiger - der Darm protestierten. Ihm blieb wohl keine andere Wahl. Verstohlene Blicke nach draußen und in alle Richtungen werfend trat er aus dem Jungenklo und öffnete die linke Tür des Gebäudes. "Aus dem Weg, ich muss mal!" rief Laura Friedel, als es zur Pause läutete. Beinahe hätte sie Jan und Hendrik umgerannt. Die Jungen waren nämlich ebenfalls unterwegs zu den Toiletten, allerdings nicht, weil sie dringende Geschäfte zu erledigen hatten. Sie wollten nachsehen, wie ihr Opfer der hinterlistigen Falle entkommen war. Doch kaum erreichten die Freunde das graue Gebäude, als ein ohrenbetäubender Lärm aus dem Toilettenraum der Mädchen klang. Im nächsten Augenblick spurtete Laura durch die Tür. Sie warf sich ihren Freundinnen schreiend in die Arme und begann kurz darauf, herzhaft zu lachen. Jan und Hendrik spielten die Unwissenden. "Was ist denn passiert?" fragten sie. Laura kicherte immer noch und weitere Mädchen, die eben das Klo betreten hatten, kamen lauthals brüllend wieder heraus. "Da-da-dadrin ist ein di-dicker Junge und -", Laura kämpfte bereits mit den Tränen, so sehr musste sie lachen, "er ist voller ..." In diesem Augenblick bahnte sich Frau Eckes einen Weg durch die plötzlich entstandene Menge. "Was geht hier vor?" fragte sie jeden zweiten, erhielt als Antwort aber nur Schulterzucken. Als sie sich Laura und ihren Freundinnen näherte, wiesen die Mädchen mit den Fingern auf die Tür zu ihrem Toilettenraum. Frau Eckes krempelte mutig die Ärmel ihrer pfirsichfarbenen Bluse hoch und betrat das Klo. Kurz darauf kam sie wieder heraus, im Schlepptau mit dem wimmernden Sascha Recklinger. Normalerweise packte Frau Eckes jemanden am Arm, wenn er etwas angestellt hatte, aber dieses Mal starrte sie nur empört und erschreckt zugleich auf den ertappten Übeltäter. Alle, die ihn sehen konnten, begannen lauthals zu kreischen und zu lachen. Sascha Recklinger, Schüler der achten Klasse, stand hinter Frau Eckes und versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Seine Hose war heruntergelassen und von Shorts und Beinen tropfte eine widerlich riechende braune Masse, die ihm ebenfalls an beiden Händen klebte. Den hinteren Teil seiner Shorts zierte ein breiter brauner Klecks und nach Geruch und Farbe zu urteilen wollte niemand damit in Berührung kommen. "Recklinger hat sich vollgeschissen!" brüllte ein Spaßvogel. "Und das auch noch im Mädchenklo!" Sascha lief purpurrot an. "Hast du sein Gesicht gesehen, als er aus dem Klo gewatschelt kam?" Hendrik lachte immer noch schadenfroh. Sein Mund war zu einem breiten Grinsen geworden, seit er Sascha in der zweiten großen Pause entdeckt hatte. "Er war voller -" Ein jauchzender Triumphschrei verschluckte Hendriks letztes Wort. Jan hatte seinen Freund schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Hendrik Hasenbein konnte nicht aufhören, von seinem Erfolg zu sprechen. Er amüsierte sich immer wieder darüber, dass Frau Eckes Sascha sogar noch die ganze Schulordnung verpasst hatte, weil dieser erstens ins Mädchenklo gegangen war und es zweitens nicht mal bis auf eine der Toiletten geschafft hatte. Vermutlich war Sascha immer noch damit beschäftigt, das Klo sauber zu schrubben. "Ein genialer Plan war das! Und er hat sogar funktioniert!" Hendrik legte einen Arm um Jans Schulter und die beiden schlenderten die Straße entlang. "Wahrscheinlich war der Plan deshalb so erfolgreich, weil er von Oma Drache kam", vermutete Jan. "Sie ist schon sehr alt. Sie ist erfahren und hat ihn bis ins kleinste Detail genau ausgeklügelt." "Glaubst du nicht, dass ihr das alles spontan eingefallen ist?" fragte Hendrik. Jan schüttelte den Kopf. "Ich wette, es stand alles in ihrem kleinen, schwarzen Büchlein. Warum sonst sollte sie ununterbrochen darin herumgeblättert haben?" "Wahrscheinlich hast du Recht. Hey, Jan, vielleicht sollten wir uns bei Oma Drache bedanken. Sascha wird sicherlich nicht noch einmal versuchen, uns unsere Pausenbrote wegzunehmen." "Ja. Ich denke, wir haben die Zeit, Oma Drache jetzt gleich einen Besuch abzustatten. Immerhin ist die letzte Stunde heute ausgefallen, weil Herr Unterland zum Arzt musste." Die Jungen hatten es beschlossen. Sie wechselten sofort die Straßenseite und wenig später erreichten sie das Haus, in dem Jan und auch Oma Drache wohnten. Doch schon von weitem sahen sie den großen weißen Wagen der Ambulanz, dessen Alarmsignale blau leuchteten. "Der Notarzt?" fragte Hendrik besorgt. "Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert. Sie stehen vor eurem Haus, Jan." "Lass uns nachsehen, warum sie hier sind." Die Jungen beschleunigten ihre Schritte, bis sie leicht nach Atem ringend die Haustür erreichten. Sie stand bereits offen und aus dem Treppenhaus hörten Jan und Hendrik, dass gesprochen wurde. Eilig nahmen sie die Stufen nach oben. Sie liefen an Herrn Bremer und Witwe Hansen aus dem zweiten Stock vorbei, die neugierig ihre Nasen ins Treppenhaus streckten. Im dritten Stock kamen Jan und Hendrik mit erschreckten Gesichtern zum Stehen. "Warum ist Oma Drachens Tür offen?" Hendrik erhielt sogleich Antwort auf seine Frage, als zwei Notärzte mit einer Trage in den Treppenflur traten. Auf der Bahre lag jemand. Die Jungen konnten allerdings nicht erkennen, um wen es sich handelte, da die Gestalt völlig von einem weißen Tuch bedeckt war. "Was ist passiert?" fragte Jan und näherte sich der Bahre. "Bist du ein Verwandter der Verstorbenen?" erkundigte sich einer der Notärzte. "Verstorben?!" Hendriks besorgte Stimme erreichte eine quietschig hohe Tonlage. "Wer ist das unter dem weißen Tuch?" fragte jetzt Jan. Die Ärzte stellten die Bahre kurz ab. Einer von ihnen kniete sich zu Jan und legte ihm beide Hände auf die Schultern. "Du musst nun ganz tapfer sein, Junge. Die Person auf der Trage war Frau Altmohn." Hendrik schrie. Jan stiegen Tränen in die Augen, er senkte rasch den Kopf, damit der Notarzt sie nicht sah. "Es tut mir Leid um deine Großmutter, Junge." "Ich bin kein Verwandter von ihr - nur ein Freund." Der Notarzt klopfte Jan noch einmal tröstend auf die Schulter, dann schob er ihn leicht beiseite, hob mit seinem Kollegen die Trage wieder an und die beiden gingen vorsichtig die Treppe hinunter. Hendrik sprang ans Geländer und fragte noch: "Wie ist es passiert?" Einer der Notärzte hob den Kopf. "Sie erlitt einen Herzinfarkt. Aber auf ihrem Gesicht stand ein Lächeln, als wir sie fanden. Vermutlich muss sie von einem freudigen Ereignis furchtbar erregt gewesen sein und das hat ihr Herz nicht mehr mitgemacht. Keine Angst, wir kümmern uns gut um sie." Dann verschwanden die Notärzte erst einmal. Hendrik blieb an der Treppe stehen. Seine Finger umklammerten das Geländer. Jan trat an seine Seite. Noch immer kullerten ihm dicke Tränen aus den Augen. "Es war unsere Schuld", schluchzte er. Hendrik sah ihn verwirrt an. "Sie ist wegen uns gestorben. Weißt du noch? Sie hat sich schon so schrecklich gefreut, als sie uns ihren Plan schilderte. Der Gedanke, dass wir ihn heute in die Tat umgesetzt hatten, muss sie so aufgeregt haben. Wir sind schuld, Hendrik." Jan brach auf der obersten Stufe zusammen. Er vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte heftig. Hendrik ließ sich neben ihm nieder. "Du weißt es nicht mit Sicherheit. Vielleicht hat auch nur jemand wieder ihren Putzeimer umgestoßen. Jan, wir können nichts dafür. Es ist eben passiert und niemand kann es mehr ändern. Außerdem", überlegte Hendrik und legte die Stirn in Falten, "warum sollte sie sich so schrecklich freuen, dem dicken Sascha eins auszuwischen? Sie kannte ihn doch gar nicht. Naja, wir werden es wohl nicht rausfinden. Aber eines kann ich dir sagen: Du solltest die Schuld an ihrem Tod nicht auf dich nehmen. Niemand hatte Schuld daran." Jan hob den Kopf. "Das Buch", flüsterte er. "Lass es uns suchen. Vielleicht finden wir dort eine Antwort darauf, warum sie so versessen war, uns zu helfen." Jans Blick fiel auf Oma Drachens Tür. Sie stand noch offen. Die Notärzte würden bald zurückkommen, um ihre Instrumente abzuholen. Jan erhob sich. Seinen Freund im Schlepptau wankte er in die Wohnung. Er wandte sich gleich nach rechts und betrat das unaufgeräumte Wohnzimmer der Verstorbenen. Da, zwischen Teetassen und einem Stapel Magazinen, da lag es noch: das kleine schwarze Büchlein, in dem Oma Drache bei der Ausarbeitung des Racheplans geblättert hatte. "Lass lieber alles so liegen wie es ist." Jan hörte nicht auf die Bitte seines Freundes. Er nahm das Buch, verschaffte sich ein wenig Platz auf dem Sofa, setzte sich und schlug es auf. Eine ganze Weile saß er schweigend da und las. Hendrik kam endlich dazu und ließ sich neben ihm nieder. "Hast du schon etwas herausgefunden?" fragte er. Jan machte eine abwehrende Handbewegung, dann nickte er. "Es ist ein Tagebuch. Die Einträge sind schon sehr alt. Über siebzig Jahre her, würde ich sagen. Ja, siehst du? Dieser Eintrag ist von 1933. Ich lese mal vor: Liebes Tagebuch, heute hat er mich schon wieder geärgert. Dieser dämliche Patrick muss immer wieder auftauchen. Er ist nur glücklich, wenn er andere schikanieren kann - vor allem mich, liebstes Tagebuch. Ich habe schon gar keine Lust mehr, in die Schule zu gehen. Patrick wartet nämlich am Eingang auf mich, um mir mein Pausengeld abzuknöpfen. Er ist so gemein! Warum ich nicht mit den Lehrern oder meinen Eltern spreche, wirst du dich jetzt vielleicht fragen. Aber du kennst das doch: die reden dann mit Patricks Eltern und einen Tag später weiß die ganze Welt, dass ich, Agnes, eine widerliche Petze bin. Dann redet niemand mehr mit mir. Dabei glaube ich, dass der Peter aus der 5a mich gut leiden kann, liebes Tagebuch. Außerdem grübele ich jede Nacht darüber nach, wie ich es Patrick heimzahlen kann. Und endlich ist mein Plan vollkommen ausgereift. Ich werde meine Mutter bitten, mir statt Geld zu geben lieber Brote zu schmieren und dann kann ich meine Idee in die Tat umsetzen. Ich habe sehr lange für die scharfen Pfefferbohnen und das Abführmittel gespart. Jedes Mal legte ich die Hälfte von meinem Pausengeld in mein Geheimfach zu Hause, bevor ich zur Schule ging. Ich habe mir auch einen Eimer roter Farbe aus Vaters Keller genommen. Dafür hat er mir ganz schön den Hintern versohlt, aber ich habe ihm trotzdem nicht gesagt, wo der Eimer ist. Liebes Tagebuch, du sollst als einziges von meinem Plan wissen. Ich werde die Pfefferschoten zerreiben und auf mein Brot streuen. Sobald Patrick davon isst, wird er Durst bekommen und auch noch mein Getränk verlangen. Da wird aber das Abführmittel drin sein. Wenn er auf die Toiletten spurtet, wird der gemeine Patrick sie bestrichen vorfinden (ich schleiche mich extra ein paar Stunden vorher zur Schule, um die Toiletten zu präparieren). Entweder wird sich Patrick in die Hosen machen müssen oder alle werden ihn nur noch den "kreisroten Hintern" nennen. Oh ja, liebes Tagebuch, das wird meine Rache sein. Hüte dich, Patrick! Niemand legt sich mit mir an! Hast du es gemerkt?" fragte Jan erregt. "Da erwähnt Oma Drache ihren Plan zum ersten Mal. Ich habe eben schon weiter gelesen. Von Eintrag zu Eintrag reift er immer mehr aus. Sie berechnet sich den genauen Wochentag und hat sogar Patricks Stundenplan aufgeschrieben. Alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Oma Drache war genial - und 1933 war sie noch ein Kind! Nicht älter als wir, schätze ich." "Sie muss furchtbar glücklich gewesen sein, als sie ihre Idee umsetzen konnte und Patrick sich blamierte." Jan schüttelte den Kopf. "Nein. Sie hat ihn niemals ausgeführt. Schau dir diesen Eintrag an." Liebes Tagebuch, ich habe versagt. Seit Wochen plante ich herum und habe intensiv alles vorbereitet und dann ist es passiert. Mein Vater hat den Farbeimer und alles andere in meinem Geheimfach gefunden, als er mein Zimmer überraschend ausräumte, um es neu zu streichen. Er hat mich böse beschimpft und geschlagen. Das Abführmittel, die Pfefferschoten und die Farbe sind an einem mir unzugänglichen Ort, denn auch dich, liebes Tagebuch, hat mein Vater entdeckt. Er ist noch gemeiner als Patrick! Er hat alle meine Einträge gelesen und daraufhin mit meiner Mutter beschlossen, mich von der Schule zu nehmen. Ich gehe jetzt in ein Schulheim für Mädchen, das weit weg von meinem Zuhause und meiner alten Schule ist. Alle hier sind sehr nett zu mir, Lehrer wie Schülerinnen. Irgendwie bin ich glücklich darüber, dass meine Probleme so eine Lösung gefunden haben, aber andererseits verfalle ich innerlich in eine unzähmbare Wut, wenn ich daran denke, mich wahrscheinlich niemals mehr rächen zu können. Aber ich werde es nicht vergessen, liebes Tagebuch. Meine Zeit ist noch nicht gekommen und vielleicht gelingt es mir eines Tages, vielleicht sehe ich ihn wieder. Und dann wird meine Rache an Patrick Recklinger noch grausamer ausfallen, als er es sich jemals vorstellen könnte. Hendrik griff sich ungläubig an den Kopf und auch Jan starrte verblüfft ins Nichts. Sascha Recklinger! Patrick Recklinger! Er musste sein Opa sein! Wie alt waren Jan und Hendrik jetzt? Beinahe zwölf. Agnes musste nach den Eintragungen zu schließen ebenfalls zwischen elf und dreizehn Jahre alt gewesen sein. Die Einträge waren über siebzig Jahre alt! Wie lange hatte sie auf ihre Rache warten müssen?! Kein Wunder, dass sie Jan und Hendrik helfen wollte. Und war sie nicht interessiert hellhörig geworden, als Jan Sascha Recklinger erwähnt hatte? Über siebzig Jahre! Die Jungen saßen schweigend auf dem Sofa. Sie hörten nicht, dass die Notärzte noch mal das Haus betraten, reagierten auch nicht auf deren Fragen, ob sie Hilfe bräuchten. Die beiden Freunde saßen einfach nur da und waren still. Irgendwann rutschte Hendrik vom Sofa. "Es ist schon spät. Meine Mutter macht sich bestimmt Sorgen, wenn ich nicht bald nach Hause komme. Gehst du auch, Jan?" "Ja. Geh ruhig schon. Wir sehen uns ja morgen." Hendrik verabschiedete sich und verließ die stille, plötzlich recht trist wirkende Wohnung. Kurz darauf erhob sich auch Jan. Er ließ den Blick ein letztes Mal durch das Wohnzimmer der verstorbenen Frau schweifen. Siebzig Jahre, dachte Jan. Siebzig Jahre hatte es gedauert, bis sie ihre Rache endlich bekommen hatte. Und die ganze Zeit war sie geduldig gewesen, hatte auf den großen Moment gewartet. Jan nahm das kleine, schwarze Tagebuch und steckte es in seine Hosentasche. Er würde den alten, garstigen und doch irgendwo freundlichen Drachen nicht vergessen. Ebenso wie sie ihre Rache niemals vergessen hatte. |