Kommentar der Autorin: Zweiter Teil der Kopfgeldjäger-Reihe. Ein dritter Teil ist geplant.

Jäger der Vergangenheit

Die Sonne schien. Endlich wurde es wieder wärmer im Lande. Vögel stimmten ihre nach frischen Schlüsselblumen klingenden Lieder an, Hasen jagten einander über die Wiesen. In Wald und Flur herrschte neues Leben, die Welt war wieder am Anfang. Blüten ließen sich vom lauen Wind tragen, tanzten dreifache Wirbel und fünffache Pirouetten. Die meisten der rosig seidenen Blätter landeten auf der Oberfläche des kristallklaren Baches, der sich seinen Weg durch das Land schlängelte. An einer kleinen Mündung, wo sich Entenküken eine Wasserschlacht boten und der stolze Erpel nach Würmern und anderem winzigen Getier tauchte, saß eine kleine Gestalt. Ihr schulterlanges rotgoldenes Haar glänzte in den Strahlen der Mittagssonne wie süßer Honig. Ein Lächeln, noch weitaus süßer, tanzte über das zarte Gesicht und große blaue Kulleraugen begannen zu leuchten. Das Mädchen stand auf. Ein Kranz aus Blumen zierte ihr Köpfchen. Sie wandte den unschuldigen Blick zu einem Punkt in der Ferne, der stetig größer wurde. Freude strahlend sprang das Kind wie ein junges Reh über die Wiese, ihr Lachen vermischte sich mit dem Singsang der Blaumeisen und ihre rotgoldene Haarpracht flog hinter ihr her wie der schimmernde Schweif eines Kometen.
Sie setzte sich unter einen Baum am Rand des ausgetretenen Weges und starrte auf den bereits Form annehmenden Punkt in der Ferne. Er wurde größer, nahm Gestalt an. Es war ein Mann, eingehüllt in einen langen braunen Ledermantel, mit einem breitkrempigen braunen Hut und schwarzen Lederstiefeln. Die Hände in den Taschen stapfte er den Pfad entlang und kaute auf einem Zahnstocher in seinem rechten Mundwinkel. An seiner Hüfte hing eine Waffe, ein Rapier um genau zu sein, ähnlich einem Schwert, jedoch gebräuchlicher zum schnellen Zustechen. Gemütlichen, jedoch genau überlegten Schrittes kam er auf das Mädchen zu. Sie wartete noch einen Augenblick, dann sprang sie von ihrem Platz auf, stürmte der unheimlich wirkenden Gestalt entgegen und warf sich ihr in die Arme. "Endlich bist du zurück. Ich habe so lange gewartet. Was hast du nur bei dem Händler gemacht? Stundenlang musst du geredet haben, da bin ich schon mal vorgelaufen. Was wolltest du denn von ihm?"
Der Mann unterbrach den Redefluss des aufgeweckten Kindes mit einer solch eisigen und zugleich kratzigen Stimme, dass es jedem noch so tapferen Mann eine Gänsehaut beschert hätte. Das Kind jedoch schien nicht einmal mit der Wimper zu zucken. "Ich habe mir eine neue Waffe gekauft. Schau her."
Er setzte das Mädchen vorsichtig ab und präsentierte ihr eine Armbrust aus nachtschwarzem Holz. "Die Sehne lässt sich blitzschnell spannen und die kleinen Bolzen sind mit eisernen Pfeilspitzen ausgestattet. Dies gewährt bei gutem Zielen einen unausweichlichen Tod."
Das Mädchen starrte den Mann mit trotzigem Gesichtsausdruck an, zugleich verzog sich ihr Mund zu einer enttäuschten Grimasse. "Immer besorgst du dir neue Waffen und prahlst groß damit herum. Wozu brauchst du die eigentlich? Nie sagst du mir das und nie bringst du mir etwas mit." Sie senkte den Blick.
Der Mann funkelte das Kind aus zu Schlitzen verengten Augen an, dann lachte er, kniete sich zu ihr herunter und öffnete eine Seitentasche seines Rucksacks. "Nana, Sophy, du hörst dich ja an, als würde ich mich überhaupt nicht um dich kümmern." Er lachte wieder und offenbarte dem Mädchen ein himmelblaues Kleid mit aufgenähter Schürze. Gänseblümchenförmige Muster waren auf den weißen Kragen und die Bunde an den Ärmeln aufgestickt. Sophy griff nach dem weichen Stoff und hielt ihn an die Wange. "Es ist wunderschön", murmelte sie.
Wenig später sah man beide den erdigen Pfad entlang spazieren, das Kind trug bereits ihr neues Kleidchen. Es ging an Hügeln, Viehweiden und Weizenackern vorbei und als die Sonne langsam hinter einer Gruppe von Bäumen verschwand, erreichten der Mann und Sophy eine Stadt. Eine gigantische Burg ragte aus dem Zentrum empor wie ein Meeresgott aus der Tiefe der Fluten.
Sophy fragte: "Wir gehen wirklich in die Stadt? Bisher bist du jedem Ort, der mehr als Hundert Einwohner hatte, ausgewichen. Warum hast du deine Meinung so schnell geändert?"
Unter dem breitkrempigen Lederhut kam ein zögerliches Murmeln. Dann: "Nun, ich wollte mal ... etwas Neues versuchen. Außerdem brauchen wir ein Quartier für die Nacht."
Sophy nickte und ließ es dabei bewenden. Sie kannte diesen geheimnisvollen Mann noch nicht allzu lange - etwa zwei Monate war sie jetzt mit ihm unterwegs. Aber sie wusste bereits, dass es nichts nutzte weiter nachzuhaken, wenn Colt Dread nur ausweichende Antworten gab. Er war nicht ihr Vater, mehr ein Freund. Eines Nachts, es regnete in Strömen draußen, stand er plötzlich in der Hütte ihres Vaters. Er erzählte, er sei ein Freund und ihr Vater könne sich nicht mehr um sie, Sophy, kümmern. Colt schlug ihr vor, sie mitzunehmen und auf sie aufzupassen. Sophy schmunzelte. Bisher hatte er das ganz gut gemacht. Leider wusste sie nicht viel von ihm. Jedes Mal, wenn sie ihn über seine Vergangenheit fragte, wand er sich geschickt wie ein Aal heraus, ohne eine genaue Antwort geben zu müssen. Warum er nicht mal an warmen Tagen den langen Ledermantel auszog und weshalb er immer wieder neue Waffen kaufte, waren ihr immer noch ein Rätsel.
"Wir sind da", sagte Colt plötzlich und riss Sophy aus ihren Gedanken. Die beiden erreichten das Stadttor. Es war noch offen. Colt musste den Wächter bezahlen, bevor sie eingelassen wurden. Es ging um seine Waffen und Zoll, aber das verstand Sophy nicht wirklich. Sie war froh, als sie endlich den Wächter und seinen Platz am Stadttor hinter sich gelassen hatten.
"Wo gehen wir hin?" fragte das Mädchen, das sich mit blitzenden Augen umschaute. Es war schon spät, Fackeln wurden entzündet, alle Läden und Geschäfte hatten bereits geschlossen und trotzdem wirbelten Sophys Augen wie verrückt umher, um auf keinen Fall das kleinste Detail der strahlenden Stadt zu verpassen. So viele große Häuser! Unglaublich, dass in jedem davon Menschen lebten, alle auf einem Haufen. Die Gassen, die sich zwischen den Häuserreihen hindurch wanden, waren richtig gepflastert und es gab keine kleinen Hütten aus Holz. Alles war aus Stein, die Dächer besaßen rot leuchtende Ziegel, aus den Schornsteinen quollen dunstige Rauchschwaden.
"Lass uns in die nächste Gaststube gehen, Sophy. Morgen kannst du in Ruhe die Stadt auskundschaften."
Colt Dread und seine junge Begleiterin marschierten weiter, bis sie ein hell erleuchtetes Haus fanden, über dessen Tür ein klappriges Holzschild baumelte.
"Zum Listigen Fuchs", las Sophy das Schild, "klingt irgendwie danach, als finden sich hier die unheimlichsten Gestalten der Stadt zusammen." Und damit hatte das Kind vollkommen Recht. Als Colt und Sophy die Schenke betraten, starrten etwa ein Dutzend grimmiger und verruchter Augenpaare zu ihnen herüber - etwa ein Dutzend deshalb, weil der Schankwirt eine Augenklappe trug. Er war sehr dick und statt seiner linken Hand zierte ein Haken das Ende seines Arms.
Colt ging zielstrebig zum Tresen. Sophy klammerte sich an seinen Mantel. Die Augenpaare folgten ihnen.
"Was treibt einen Mann wie Euch in den Listigen Fuchs?" fragte der Wirt und spuckte auf die Theke. Dann wischte er sie mit einem dreckigen Lappen. "Noch dazu in Begleitung eines Kindes? Na, Kleine, müsstest du nicht zu Hause bei Mama am Rockzipfel hängen?" Der Wirt lachte, seine Gäste stimmten mit ein. Sophy verkroch sich tiefer in die Falten des Mantels.
"Meine Begleiterin und ich suchen ein Zimmer für die Nacht." Beim Klang von Colts Stimme erstarrte das Grinsen auf dem Gesicht des Wirtes zu einer grotesken Maske.
"Ich denke, da bist du hier in der falschen Kneipe, Bursche. Ich vergebe keine Zimmer an Kindermädchen."
Eine blitzschnelle Bewegung. Colts Armbrust zielte zwischen die Augen des Schankwirts. "Ich habe genug Gold bei mir, um das Zimmer zu mieten und der ganzen Runde einen auszugeben. Wenn Ihr allerdings glaubt, nicht auf mein dreckiges Geld angewiesen zu sein, dann ..."
"Wartet", stotterte der Wirt, der zitternd auf die Stelle zwischen seinen Augenbrauen schielte. "Mein Herr, ich will Euch das beste Zimmer zur Verfügung stellen, das ich anzubieten habe.
Vielleicht noch eine gute Mahlzeit für Euch und Eure kleine Lady, mein Herr? Natürlich auf Kosten des Hauses."
Colt ließ die Armbrust sinken. Bei einem solchen Feigling war es nicht einmal ihm wert, abzudrücken. Außerdem brauchte er das Zimmer. Sophy musste schlafen, während er ... "Lasst das Essen nach oben bringen", befahl Colt.
Wenig später saß Dread allein an einem der Tische und trank einen Whiskey. Hoffentlich schläft Sophy schon, dachte er. Die meisten der Gäste waren bereits gegangen. Nur hier und dort hockten noch einige Stammgäste, die Karten spielten oder ein Getränk nach dem anderen kippten.
Der Schankwirt kam plötzlich auf Dreads Tisch zu, zog einen klapprigen Stuhl heran und setzte sich. "Solltet Ihr nicht hinter dem Tresen stehen?"
"Und solltet Ihr nicht in einer für das Mädchen weniger unheimlichen Herberge Rast gefunden haben?" Dread biss sich auf die Unterlippe. "Was wollt Ihr?" fragte er und nahm einen großen Schluck aus seinem dreckigen Glas.
"Wissen, warum Ihr mit dem Kind in eine Kneipe wie meine kommt. Das Mädchen hatte Angst, das sah ich genau."
"Ach was. Die Kleine ist ein mutiges und aufgewecktes Kind."
"Aber in einer gemütlichen Gaststube wäre sie sicher besser aufgehoben als hier. Ihr müsst wissen, dass nur das ... sagen wir lichtscheue Gesindel in den Listigen Fuchs kommt. Dies ist wirklich nicht der richtige Ort für ein kleines Mädchen."
Dread schwieg einen Moment. Dann antwortete er: "Wäre ich mit ihr in eine Herberge gegangen und sie nachts die Treppe runtergekommen, hätte sie noch mehr Angst bekommen, da sie mich nicht am Tresen gefunden hätte."
"Das heißt", folgerte der Wirt mit einer in Falten gelegten Stirn, "Ihr hättet dem Fuchs ohnehin einen Besuch abgestattet."
Dread antwortete nicht. Er leerte sein Glas.
Der Wirt reichte ihm seine Hand. "Ich bin Bierhaken Brodwin. Was führt Euch also in meine Kneipe?" "Ich habe ein Kind zu versorgen und suche nach einem Auftrag."
"Verstehe", murmelte Brodwin, der die Tätigkeiten seiner Gäste meist kannte. Der Listige Fuchs war der Treffpunkt für Diebe, Verbrecher und Händler für illegalen Im- und Export. "Und welcher Tätigkeit geht Ihr nach? Wenn Ihr das Mädchen jemandem für die Nacht anbieten wollt, dann wendet Euch an -"
"Sie ist keine Hure, Mann!" Dread war von seinem Stuhl aufgesprungen. Seit sehr langer Zeit hatte er nicht mehr einen solchen Gefühlsausbruch erlebt. Die restlichen Gäste starrten ihn an oder tauschten verwunderte Blicke. Langsam ließ Dread sich wieder auf das Holz sinken. Bierhaken füllte ihm das Glas. Dread war dankbar dafür. Er nahm einen tiefen Zug.
"Ich bin kein Zuhälter, damit das klar ist. Sagen wir, ich bin Jäger."
"Soso", murmelte Brodwin und versuchte sich darauf einen Reim zu machen. "Und auf was macht Ihr Jagd?"
Dread packte den Wirt an seinem fleckigen Kragen. Er zog ihn ganz nah an sich heran. Ein kaltes Grinsen umspielte seine Mundwinkel. "Auf die Köpfe, die meine Auftraggeber sich aussuchen." Dread lockerte seinen Griff. Bierhaken Brodwin starrte ihn fassungslos an. Der Wirt hatte schon viele kuriose Gestalten in seiner Kneipe beherbergt, aber nie zuvor war ein Kopfgeldjäger unter ihnen gewesen. Diese skrupellosen Menschen, die für Gold auf jedermann Jagd machten, ohne Belang, ob das Opfer nun in irgendeiner Weise schuldig war oder nicht. Die Art von Mensch, vor denen sich sogar Außenseiter zurückzogen. Nur Personen abgrundtiefer Bosheit wandten sich an einen dieser professionellen Jäger und Mörder.
"Was ist jetzt, Bierhaken? Hättet Ihr jemanden für mich, dem ich dienlich sein könnte?"
Der Wirt schüttelte zitternd den Kopf. Kleine Diebstähle, Interessenten berauschender Kräuter, Frauenverkäufer, ja, aber er kannte niemanden, der die Dienste eines Kopfgeldjägers beanspruchte. "Ich kann Euch nicht weiterhelfen, mein ... Herr."
"Mist!" Dread schlug wütend auf den Tisch. Sein Glas fiel um und verteilte den kostbaren Whiskey über dem Fußboden.
Dread kaute missmutig auf seinem Zahnstocher.
"Ich könnte mich durchaus für Euer Können interessieren", sagte eine kalte und spitze Stimme hinter Dread. Der Kopfgeldjäger drehte sich um. Ein schwarzgekleideter Mann stand hinter ihm. Er trug wie auch Dread selbst, einen breitkrempigen Lederhut. Sein schwarzes Haar war im Nacken zu einem Zopf gebunden. Der Fremde beugte sich zu Dreads Ohr hinab.
"Ich habe Euer Gespräch mit dem alten Bierhaken belauscht und könnte Eure Fähigkeiten wirklich gut gebrauchen. Seht Ihr, es gibt da diesen Händler ..."
Dread wusste, worauf dieses Geflüster hinauslaufen würde. Er lehnte sich ein wenig zurück, kaute weiterhin auf seinem Zahnstocher und wisperte: "Ich bin ganz Ohr."
Die ersten Sonnenstrahlen lugten an dem vergilbten Vorhang des kleinen Ein-Mann-Zimmers vorbei. Einer von ihnen stahl sich davon und fiel auf die Klinge von Dreads Rapier. Die Waffe hätte geblinkt und geblitzt, wäre sie nicht bis zum Heft mit Blut verschmiert gewesen. Colt wischte eifrig mit einem Fetzen darüber. Es war kein leichter Job gewesen. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Whiskeyflasche, die er sich mit aufs Zimmer genommen hatte und dachte über die letzte Nacht nach.
Colt hatte gleich drei Männer jagen und zwei davon umbringen sollen. Dem letzten, der Bruder seines Auftraggebers wie sich später herausstellte, sollte er nur eine Lektion erteilen. Nun, der arme Tropf würde nie wieder weglaufen können. Eine unangenehme Arbeit, aber für Colt hatte sie sich gelohnt. Einen ganzen Beutel Gold durfte er sein Eigen nennen. Doch seit einiger Zeit machte ihn das nicht mehr glücklich. Eigentlich hatte ihn das Gefühl, einen Menschen zu jagen und zu töten noch nie wirklich glücklich gemacht. Er tat es eben, weil es sein Job war. Völlig in Gedanken versunken streifte sein Blick das Bett, in dessen Tiefen, verborgen unter dicken Wolldecken, Sophy schlief. Er musste das Blut abgewischt haben, bevor sie erwachte. Ihn ekelte es schon, die rote Flüssigkeit fremder Menschen zu sehen, aber das Mädchen würde einen Schock fürs Leben bekommen. Sie durfte niemals erfahren, wer Colt Dread, der Mörder ihres eigenen Vaters, wirklich war.
Von irgendwo tief in Colts Ohr ertönte ein gehässiges Lachen.
Glaubst du tatsächlich, dass du es auf ewig vor ihr geheim halten kannst? Sie wird es eines Tages erfahren und wenn du dich ihr bis dahin nicht entledigt hast, wird sie in deine Fußstapfen treten wollen. Willst du das, Colt Dread? Willst du Sophy zu einer Jägerin machen?
Colt schüttelte den Kopf. Die innere Stimme verklang. Nein, Sophy sollte nicht zu dem werden, was er war. Das würde er nie zulassen. Er setzte ein weiteres Mal die Flasche an den Mund.
Aber bei dir selbst hast du dich auch nicht aufgehalten. Du erfüllst Nacht für Nacht Aufträge dieser Art, verdienst dein Geld mit Angst, Verfolgung, Mord und Schrecken.
"Ich ... ich mache nur meine Arbeit."
Warum gerade diese Art von Tätigkeit? Hast du nichts anderes gelernt? Du führst Befehle aus, ohne über die Folgen nachzudenken. Dir geht es doch nur um das Gold und die innere Bestätigung, deine Arbeit gewissenhaft erledigt zu haben.
"Ich erfülle jeden Auftrag, sei es, dass ich die Opfer meiner Auftraggeber nur jage oder gar töte. Ich habe bisher nur ein einziges Mal versagt. Nur einmal ... und dieser Misserfolg prägte mein ganzes bisheriges Leben."
Colt versank tiefer in seine Gedanken. Vor seinem inneren Auge verschwamm alles. Schatten wirbelten umher, nahmen ihn in seine Tänze auf, Gelächter erschallte ... dann Stille. Er lauschte, hörte plötzlich eine Tür knarren.
"Na, wo ist denn der verdammte Bengel?" Eine tiefe Männerstimme. Sie ließ Colt einen Schauer über den Rücken laufen, machte ihm Angst. Da, eine zweite, weichere Stimme. "Bitte beruhige dich, Liebster. Du hast getrunken."
"Ich will mich nich' beruhigen! Ich werde dem Jungen das Fürchten lehren ... haut einfach ab, anstatt seinen alten Herr'n beim Pokern zu helfen! Hat mir mein ganzes Geld gestohlen, dieser Mistkerl!"
"Er wollte nur retten, was du noch nicht verspielt hast. Bitte, beruhige dich, Colt hat es doch nur für die Familie getan."
Ein Schlag, irgendetwas Schweres fiel zu Boden, dann ein Schluchzen.
"Mutter?" Colt öffnete seine Zimmertür. Er sah seine Mutter am Boden liegen, ein umgeworfener Stuhl daneben. Ein riesiger Schatten stand vor dem Kamin und starrte ihn aus geröteten, hasserfüllten Augen an.
"Vater -"
"Du, Bursche, na warte, dich werde ich lehren, deinen eigenen Vater zu bestehlen!" Der Mann zog seinen Gürtel. Colt sprang zu seiner Mutter. "Was soll ich tun, Mutter, so sag doch etwas!"
Die Frau hob den Kopf, legte eine blutige Hand an die Wange ihres Sohnes. "Du hast schon alles richtig gemacht, mein Liebling. Pass nur immer auf uns auf, ja?"
"Halt deine verdammte Klappe, Weib!" Colts Vater holte mit einer zerbrochenen Bierflasche aus und rammte sie in den Hinterkopf seiner Frau. Die Mutter schrie kurz, dann war es schon vorbei. Blut tropfte wie eine Tränenflut aus ihren Augen, die Colt mit schreckgeweiteten Pupillen ansahen. Der Vater lachte, dann wiederholte er spöttelnd die letzten Worte seiner Frau: "Pass nur immer auf uns auf, ja? HA! Wie immer erfüllst du keinen Auftrag, den man dir erteilt, Bursche. Und jetzt werde ich dir den Arsch versohlen, dass dir Hören und Sehen vergeht!"
Der junge Colt rannte um sein Leben ...
"Wach auf, wach auf, du hast einen Albtraum."
Colt Dread öffnete die Augen. Er blickte in das sorgenvolle Gesicht Sophys. "Endlich bist du wach. Ich hatte solche Angst um dich." Sie warf sich ihm in die Arme. Colt schaute sich um. Er war nicht auf der Flucht vor seinem betrunkenen, hasserfüllten Vater. Er lag auf den Holzdielen im Zimmer des Listigen Fuchses. Sein Rapier lehnte am Stuhl neben ihm. Die Whiskeyflasche lag zu Scherben zerschlagen unter dem kleinen Holztisch. Colt atmete tief aus. Es war wirklich nur ein Traum gewesen. Er drückte Sophy fest an sich, die zu Weinen begonnen hatte. "Es ist alles in Ordnung, Kleines. Ich bin okay."
"Du hast ganz laut geschrieen", schluchzte sie, "und seltsame Dinge gerufen. Du willst deine Mutter stolz machen und jeden Auftrag erfüllen. Was sollte das bedeuten?"
Colt seufzte. Er richtet sich auf, legte beide Hände auf Sophys Schultern. Aus ihren großen blauen Kulleraugen rollten die Tränen. Sie schniefte.
"Hör mir jetzt gut zu, Sophy", sagte Colt. "Ich arbeite nachts als Kopfgeldjäger, das heißt, ich verfolge Menschen und töte sie, wenn ich muss. Von dem Gold, das ich erhalte, ernähre ich uns. Ich kaufe Essen, Trinken und warme Kleidung für uns beide. Aber ich hatte bisher Angst es dir zu sagen."
"Warum?"
"Weil ... weil ich nicht will, dass du dir auf demselben Weg einmal dein Brot verdienen wirst. Du bist ein kluges und lebensfrohes Mädchen. Ich habe mich mit meinem schmutzigen Dasein als Jäger und Mörder abgefunden. Aber du hast das Zeug zu etwas Anderem. Du musst, nein, du darfst nicht so werden wie ich."
Sophy legte ihren von rotgoldenem Haar gerahmten Kopf an Colts Brust. "Das möchte ich aber. Mein Vater hat mich dir anvertraut, dass du dich um mich kümmerst. Dazu gehört auch, dass ich von dir lerne. Und es ist mir egal, was du kannst und tust, ich möchte von dir genau das lernen. Zeige mir, ein Kopfgeldjäger zu sein. Es kann nicht so schlimm sein, wenn mein Vater wollte, dass ich durch dich davon weiß."
"Ich muss dir etwas gestehen, Sophy. Dein Vater kannte mich gar nicht. Ich bin auch kein Freund der Familie. Ich ... ich habe deinen Vater im Auftrag von ein paar Männern aufgespürt und umgebracht."
Sophys Augen weiteten sich vor Entsetzen. Obwohl sie noch ein Kind war, verstand sie Colts Worte mit jeder Silbe. "Das ist nicht ... wahr", schluchzte sie. Auch in Colts Augenwinkel bildete sich eine Träne. Er zitterte am ganzen Körper.
"Ich ... bemerkte erst später, dass mein Opfer eine Tochter hatte. Dich, Sophy. Ich ... ich konnte es nicht rückgängig machen und du hast mich mit deinen wunderschönen unschuldigen Augen verzaubert. Sollte ich dich etwa allein in der Hütte zurücklassen, in der die Leiche deines Vaters lag?!"
Colt wollte Sophy an sich ziehen, aber das Mädchen entriss sich seinen Händen. Scheu wie ein junges Reh wich sie vor ihm zurück. "Du lügst! Niemals würdest du meinen Vater töten! Das ist ein Spaß, den du machst, Colt, ein Spaß, nicht wahr? Warum willst du mir Angst machen? Ich hab dich doch lieb!"
"Nein, Sophy. Hasse mich, hasse mich aus tiefster Seele, denn alles, was ich sage, ist wahr. Es tut mir so leid, meine Kleine. Ich werde dafür sorgen, dass du mich vergisst. Ich werde dir ein sicheres zu Hause suchen, ein Heim, wo es keine verlogenen Menschen wie mich gibt."
Das Mädchen weinte bittere Tränen. Es verstand die ganze Sache nicht mehr und es wollte sie auch nicht verstehen. "Wir beide sind doch Freunde! Du hast mir immer geholfen, wenn es mir schlecht ging! Mein Vater ist gar nicht tot und wenn doch, dann warst nicht du sein Mörder! Nein, nicht du, Colt! Dazu bist du nicht fähig, du bist doch immer so lieb zu mir gewesen." Sie kam wieder auf ihn zu und warf sich ihm in die Arme. "Schick mich bitte nicht weg. Lass mich nicht allein. Ich will mit dir gehen. Ich werde artig sein, versprochen, und ich werde auch alles von dir lernen, was du mir erklärst. Ich will eine gute Kopfgeldjägerin sein, wenn ich groß bin."
"Und genau das ist es, was ich nicht zulassen kann. Es tut mir so leid, Sophy, aber für uns ist jetzt die Zeit des Abschieds gekommen. Du musst mich vergessen und ein Leben ohne die schmutzige Wahrheit der Vergangenheit führen, verstehst du mich?"
Die beiden saßen noch lange auf dem Fußboden des schäbigen Zimmers und es flossen noch viele Tränen, ehe sie sich aus ihrer Umarmung lösten.

Sophy klopfte an die Tür, die hinab in die königliche Küche führte.
"Nur immer herein!" wurde sie von einer klangvollen Stimme aufgefordert, den Raum zu betreten. Sophy wurde von einer dicken, pausbäckigen Frau willkommen geheißen. "Ich bin Martha, du kannst mich aber ruhig die alte Henne nennen, wenn du magst." Die grauhaarige Martha musterte Sophy mit sanftem Blick. "So, du bist also unsere neue Küchengehilfin. Der Pförtner hat mir bereits von dir erzählt, du sollst ein kluges Mädchen sein. Kannst du denn auch kräftig anpacken?"
Sophy nickte schüchtern. Martha lächelte. "Gut, gut, mein Kind. Dann sei willkommen in deiner neuen Familie. Ich bin sicher, wir werden uns alle prächtig verstehen. Du kannst sofort mit deiner Arbeit beginnen. Am Anfang bekommst du noch sehr wenig Geld, aber ein warmes Zimmer und Verpflegung sind gut an des Königs Hof. Sobald du älter bist und bei anspruchsvolleren Arbeiten aushelfen kannst, wird auch der Lohn besser, glaub mir. Falls du Probleme hast, kannst du immer zu mir kommen. Sieh mich einfach als eine Art Großmutter an, in Ordnung? Na dann, viel Spaß hier am Hof. Am besten wischst du erstmal den Boden. Später zeige ich dir dann, wie man Kartoffeln schält." Die alte Martha kehrte ein Liedchen summend zu einem großen Topf auf dem Feuer zurück.
Sophy seufzte. Dies sollte also ihr neues Leben werden, ein Leben ohne Gewalt, Angst und verlogene Menschen, die andere für einen Beutel Gold bis ans Ende der Welt jagten, um sie dann zu töten. Sophy ging zum Fenster und starrte hinaus. Sie dachte über Colts Worte nach. Dieses Leben war wirklich besser, für sie und für ihn. Sie würde glücklich am Hof werden und vielleicht einmal einen treuen Mann und Kinder haben. Aber sie würde ihn nie vergessen, den Mann, den Kopfgeldjäger, der ihren Vater umbrachte und den sie dennoch so lieb gewonnen hatte.